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Soziale Teilhabe

Die Förderung der sozialen Teilhabe ist ein wichtiges Ziel des ESF Plus. Bei der Förderung durch den ESF Plus geht es also nicht allein um die Arbeitsmarktintegration oder die verbesserte Arbeitsmarktteilhabe, sondern auch darum, die Grundlagen für eine gesellschaftliche Teilhabe insgesamt zu verbessern. Mit dem Begriff der sozialen Teilhabe ist ein intensiv diskutiertes Konzept verbunden. Grundsätzlich geht es um die Frage, wie alle Menschen in verschiedensten sogenannten Teilhabedimensionen am gesellschaftlichen Leben mitwirken können. Als solche Teilhabedimensionen werden z.B. Arbeit, Bildung, Einkommen, Gesundheit, Wohnen, soziale Kontakte, Mobilität, Freizeitaktivitäten und politische Partizipation gezählt.

Eine Möglichkeit zu beurteilen, wie gut es um die Soziale Teilhabe von Menschen steht, ist eine individuelle Beurteilung, bei der unter Rückgriff auf die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) anhand von Indikatoren versucht wird, die Teilhabe zu messen. Daneben gibt es aber auch soziologische Konzepte, die das Wechselspiel zwischen individuellen Ressourcen und gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt stellen. Wichtige Bezugspunkte sind hierbei zum einen das Lebenslagenkonzept, das seit den 1980er Jahren viel genutzt wurde, „um soziale Ungleichheit nach möglichst vielen Dimensionen und differenzierter (…) abzubilden“ (Bartelheimer et.al 2022: 21) und zum anderen das Konzept der Befähigung – oder wie in Fachkreisen geläufiger - der Capability-Ansatz (ebd.: 22). Das Konzept der Teilhabe gewinnt in immer mehr Politikbereichen an Bedeutung, so z.B. in allen Bereichen der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, aber auch im Bereich der Grundsicherung, Kinder- und Jugendhilfe oder in der Wohnungslosenhilfe oder der Migrationspolitik.

Im Kern geht es bei den soziologischen Konzepten darum, dass sich die soziale Teilhabe der Menschen aus dem Zusammenspiel von individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entscheidet. Zum einen kann es sein, dass Menschen aufgrund unzureichender Ressourcen und nicht vorhandenen Fähigkeiten nicht ausreichend teilhaben können. Genauso kann es aber auch sein, dass trotz vorhandener Ressourcen und Fähigkeiten eine Teilhabe nicht in vollem Umfang möglich ist, weil gesellschaftliche Bedingungen oder Restriktionen dies verhindern.

Die Querschnittsthemen im ESF Plus, Gleichstellung der Geschlechter, Antidiskriminierung und Ökologische Nachhaltigkeit, sind unmittelbar mit der Frage nach sozialer Teilhabe verknüpft. Hier soll nun entlang der Querschnittsthemen skizziert werden, wie gesellschaftliche Strukturen die soziale Teilhabe für die Menschen und damit auch für die Teilnehmer*innen in ESF Plus-Projekten beeinflusst.

Die Gleichstellungsstrategie der Bundesregierung beschreibt, dass „ungleiche Verwirklichungschancen zwischen Frauen und Männern (…) sich in vielen Lebensbereichen (zeigen) und (sich) in ungleicher gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Partizipation von Frauen und Männern (spiegeln).“ (BMFSFJ 2020: 10) Die Gründe hierfür sind vielfältig. Als wesentliche Ursachen für die ungleichen Verwirklichungschancen werden im zweiten Gleichstellungsbericht Diskriminierung, Gewaltverhältnisse, strukturelle Benachteiligungen durch institutionelle Regeln und Rahmenbedingungen sowie Geschlechterstereotype betrachtet (ebd.). Das führt dazu, dass Frauen weniger materielle Ressourcen haben, weniger Einfluss und immer noch viel zu oft an die „gläserne Decke“ stoßen.

Gleiches gilt im Bereich Antidiskriminierung. Auch hier sind es strukturelle Barrieren im Bereich Bildung und Arbeitsmarkt (vgl. Menschen mit Einwanderungsgeschichte und Jugendliche in ihrer Vielfalt) und diskriminierende Stereotype, die eine gleichberechtigte Teilhabe verhindern. Diese strukturellen Barrieren führen dazu, dass Betroffene nicht dieselben Möglichkeiten haben, individuelle Fähigkeiten und Kompetenzen zu erwerben. Am Ende addieren sich die gesellschaftlichen Hürden und die schlechteren formalen Kompetenzen, so dass die soziale Teilhabe noch schwieriger wird. Dies gilt insbesondere für die Teilhabedimension Erwerbsleben. Es ist aber wichtig, soziale Teilhabe nicht zu reduzieren und auch alle anderen Dimensionen in den Blick zu nehmen, weil z.B. sowohl die Gesundheit als auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wichtige Einflussfaktoren auf die Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen sind.

Auch die Ökologische Nachhaltigkeit bzw. umgekehrt die Auswirkungen einer guten oder eben nicht so guten ökologisch nachhaltigen Politik wirken sich auf die Teilhabemöglichkeiten aus. Genannt werden können hier z.B. die Auswirkungen von steigenden Energiepreisen auf die materiellen Ressourcen der Menschen oder aber auch die Auswirkungen steigender Temperaturen. Gerade für Menschen, die in engen Wohnverhältnissen, an dicht befahrenen Straßen mit wenig Grün und in Gebäuden mit schlechten energetischen Voraussetzungen bzw. schlechter Isolierung leben, hat die steigende Temperatur ganz andere Auswirkungen als auf Menschen, die mit viel Platz und eigenem Garten leben können. Hierauf hat der ESF weniger Einflussmöglichkeiten als auf die Bedingungen im Bereich Gleichstellung der Geschlechter und Antidiskriminierung.

Der EFS Plus kann auf zwei Ebene dazu beitragen, die soziale Teilhabe von Frauen und Männern in ihrer Vielfalt und von wegen anderer Merkmale diskriminierten Personen zu fördern. Zum einen durch die Verbesserung und inklusivere Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, zum anderen, in dem der ESF Plus Individuen darin fördert, ihre individuellen Voraussetzungen zu verbessern, sowohl über Qualifizierung und Bildung als auch durch den Zugang zu Beratung, durch aufsuchende Arbeit usw.

Das Ziel einer guten sozialen Teilhabe ist nicht, dass alle Menschen das Gleiche machen können, sondern, dass allen Menschen ermöglicht wird, ausreichend individuelle Fähigkeiten zu erwerben und mit diesen auf gesellschaftliche Strukturen treffen, die ihnen Teilhabe ermöglichen. Um zu illustrieren, was Soziale Teilhabe sein kann und was ihr entgegensteht, wählte Jean-Michael Bonvin das Beispiel des Fahrradfahrens: Wer die Chance haben soll, Rad zu fahren, braucht ein Fahrrad oder den Zugang zu einem. Die Person muss Radfahren können, es muss die Infrastruktur (Wege, Straßen) geben, es muss kulturell akzeptiert sein und Radfahren muss erlaubt sein. Wenn das alles gegeben ist, besteht die individuelle Freiheit zu entscheiden, ob jemand Fahrradfahren möchte oder nicht. Das Ziel sozialer Teilhabe sei es nicht, dass alle gleich viel Fahrradfahren, sondern, dass alle, die Fahrradfahren wollen, dies auch können (vgl. Bartelheimer 2007).

Literatur:
Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt a.M. 1999.
Sen, Amartya: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München 2002.


November 2023